Saving Private Mythologies
H8H präsentiert eine Gruppenausstellung zur Privatmythologischen Arbeit von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern
23. Februar bis 28. März 2025
Annette Cho
Judith Miriam Escherlor
Anna Kautenburger
Koon Kwon
Marie Meyer
Nikolas Müller
Lucas Oertel
Michael Riedel
René Schohe
Natalia Shumskaya
Nicholas Warburg
Kuratiert von Il-Jin Atem Choi
Die Geschichte der Menschheit basiert einzig und allein auf dem Narrativ von Individuen. Ohne individuelle Narrative keine Geschichte. Die künstlerische Signifikanz dieses Grundgedankens lässt sich nach wie vor am Mythos des Menschen als schöpferischem Erschaffer, wie Gott damals, wunderbar ablesen.
Es erscheint folgerichtig, dass private Mythologien von geschichtsbewussten Menschen gehegt und gepflegt werden, darunter bildende Künstlerinnen und Künstler, Celebrities und Top CEOs. Besonders beliebt ist der Unternehmensgründungsmythos: Jedes große Unternehmen besitzt einen, von Microsoft in der Garage über Apple in der Garage bis Tesla on top of douchebag mountain.
Bildende Künstlerinnen und Künstler haben sich nicht erst seit Joseph Beuys dieser Strategie bedient (im Kampfflugzeug abgeschossen, schwer verletzt, von Tartaren geborgen, in Fett und Filz genesen, transformiert wiederauferstanden – das meiste anscheinend erfunden), wie bereits die von Harald Szeemann auf der documenta 5 im Jahr 1972 kuratierte Sektion mit dem Namen Individuelle Mythologien gezeigt hat.
Aber worum handelt es sich genau, wenn sich zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler privatmythologisch betätigen? Es ist das bewusste oder unbewusste Erzählen, Verschweigen, Aufbauschen, Kleinmachen, Manipulieren und Instrumentalisieren der eigenen Biografie in Form von Kunstwerken, Performances, Pamphleten, Manifesten, Gedichten, Interviews, Social Media Posts oder Pressemitteilungen. Kurz gesagt, alles, was mit der heutigen digitalen Medienlandschaft zu tun hat.
Roland Barthes hat in seinem Buch Mythologies aus dem Jahr 1957 folgende Definition für den Mythos geliefert:
„Der Mythos ist ein System der Kommunikation, eine Botschaft. Man ersieht daraus, dass der Mythos kein Objekt, kein Begriff und keine Idee sein kann; er ist eine Weise des Bedeutens, eine Form.“
Es handelt sich also nicht um eine Ideologie, sondern um eine Gestaltveränderung der Wahrheit und im Falle der Privatheit um die der eigenen Biografie. Noch einmal Barthes:
„So paradox es scheinen mag, der Mythos verbirgt nichts. Seine Funktion ist es, zu deformieren, nicht verschwinden zu lassen.“
Die bildenden Künstlerinnen und Künstler der vorliegenden Ausstellung tun dies ebenfalls auf eine idiosynkratische Art und Weise und stellen eine besondere, ihnen ureigene Form der Selbstbedeutung zur Verfügung.
Die Ausstellung war in leicht veränderter Form in der galerie intershop in Leipzig zu sehen und wandert nun von Leipzig nach Frankfurt am Main. Die galerie intershop ist eine Produzierendengalerie, die als Kollektiv nonhierarchisch und basisdemokratisch organisiert ist. Ziel ist es, als Kollektiv professionell in der Kunstwelt und auf dem Kunstmarkt zu agieren, sodass die 20 beteiligten Künstlerinnen und Künstler in Zukunft von ihrer Kunst leben können.
Dies setzt ein hohes Maß an Idealismus voraus, da die monatlichen Kosten der ökonomischen Entität Produzierendengalerie vom Kollektiv vorfinanziert werden. Mehr als zwei Drittel der beteiligten künstlerischen Positionen sind Künstlerinnen, was sehr selten in der Kunstwelt vorkommt, die nach wie vor von patriarchalischen und heteronormativen Strukturen geprägt ist.
Photography by Jens Gerber